Textatelier
BLOG vom: 22.05.2014

Freundschaftsbuch: Die aktuelle Form der Poesiealben

 
Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich-Altstetten  
 
Die Poesiealben sind abgelöst worden. Kinder von heute besitzen ein Freundschaftsbuch, in das sich eintragen darf, wer zu den Freunden gehört. Es verlangt keine Kreativität. Es sind nur Fragen zu beantworten.
 
Die Kinder beschreiben sich selber, geben Auskunft über Name, Geburtstag, Telefon-Nummer, E-Mail-Adresse und das Sternzeichen. Und sie kleben eine Foto von sich ins entsprechende Feld. Es wird auch nach den Lieblingen gefragt: Lieblings-Farbe, -Tiere, -Beruf, -Buch, -Film, -Essen und -Musik.
 
Ganz anders zu meiner Schulzeit. Das Poesiealbum besass nur leere Seiten. Den Inhalt dieses Buches gestalteten jene Auserwählten, die um einen Eintrag gebeten worden waren.
 
Solche Bücher waren kostbar, meist wertvoll gebunden. Eltern, Geschwister, Mitschüler und enge Freundinnen verewigten sich darin. Oft baten wir auch Lehrer oder Lehrerinnen um ein persönliches Wort und Bild.
 
Zu Weihnachten 1948 schenkten mir meine Eltern ein solches Poesiealbum. Es ist gut erhalten. Alle, die es benützten, nahmen meinen Wunsch ernst:
 
Liebe Kinder gross und klein, haltet mir das Album rein; denn es ist mir nicht gelegen, wenn ich muss das Album fegen.
 
Was mich heute freut: Dass sich die Handschrift meines Vaters in diesem Buch erhalten hat. Mir gefällt sein Text gut, weil er seine Einstellung dem Leben gegenüber ausspricht. Solche Albumtexte, wie auch viele Sprichwörter, waren allgemein bekannt. Sie unterstrichen manchen Rat, manche Einsicht.
 
Vater schrieb für mich: 
Zur Erinnerung
Nütze die Tage, sie fliehen so schnell.
Liebe die Jugend, sie glänzet so hell.
Ehre die Eltern, befolg ihren Rat.
Und tue Gutes durch Wort und durch Tat.
Dann hast Du Frieden und fröhlichen Sinn.
Und wandelst glücklich durch's Erdental hin. 
Das dazu gehörige Bild ist ein schwarzer Scherenschnitt. Ein Hund springt 2 Kindern entgegen. Aus allen Gesten lese ich Freude. Und ich wundere mich, dass ich den Hund nicht bellen höre. Die Kinder besänftigen ihn mit liebevollen Gesten.
 
Auch der Scherenschnitt zum Text von meiner Mutter gefällt mir. Da schreitet ein Mädchen, in Gedanken versunken, durchs Gras. Vögel beobachten es. Auch auf diesem Bild ist der Gesichtsausdruck vom Profil bestimmt. Das sind Kunstwerke. Ich habe sie wahrscheinlich noch nie so ansprechend empfunden. Und heute sehe ich mich in diesem Bild.
 
Was mir in meinem Album auf Schritt und Tritt begegnet, sind Texte, die ein Kind gar nicht verstehen konnte. Von Lebensfreude sprach eigentlich nur mein Vater, als er von der glänzenden Jugendzeit schrieb.
 
Mein Götti (Pate) wählte einen Text, dem die positive Kraft, die in Kindern steckt, nicht angesprochen wird. Das Gedicht enthält 4 dunkle Strophen. Die erste lautet

Mache Dich auf viele Leiden,
Wenig Freuden Dich gefasst;
Du erträgst kein Kleid von Seiden,
Bis du Zwilch getragen hast.
 
Ganz anders schrieb seine Frau:
 
Sieh fröhlich in die Welt hinein,
ist's Dir auch manchmal trüb zu Mut,
ein bisschen Herzenssonnenschein
tut so viel Menschenblumen gut.
 
Einträge wie die nachfolgenden konnten wir herunter leiern. In jedem Album begegneten wir ihnen. Z. B.:
 
So schön wie eine Blume blüht. So blühe auch Dein Glück. Und wenn Du eine Blume siehst, so denk an mich zurück.
 
Oder:
 
Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab. Und weiche keinen Finger breit von Gotteswegen ab.
 
Willst du glücklich sein im Leben, trage bei zu anderer Glück, denn die Freude, die wir geben, kehrt ins eigne Herz zurück.
 
Sprichworte und Sprüche sollten uns Einsichten schenken. Es waren spielerische Erläuterungen, eine Art Geländer auf dem Lebensweg. In kurzer Form verfasst, damit sie im Gedächtnis haften blieben.
 
Einmalig aber der Eintrag von Grosstante Bertha. Herausragend die Illustration eines Grafikers, der für ihren Sohn arbeitete. Sie bat ihn, die Bildseite ihres Eintrags auszuschmücken. Im Text wird von Rosen gesprochen. Darum umkränzte er ein kleines Mutter-Kind-Bild, das Mittelpunkt sein musste, mit Rosen. Eine Tuschzeichnung auf farbigem Aquarell-Hintergrund. – Mein Stolz!
 
Aussergewöhnlich auch der Eintrag meiner Mitschülerin Monique Schiele. Wir sassen in der Sekundarschule ein Jahr lang in der gleichen Klasse. In vielen Belangen war sie der Zeit und auch uns Mitschülerinnen voraus. Sie verliess schon damals die Normen, schrieb ganz locker in mein Album „Der lieben Häse zur Erinnerung an Deine Mitschülerin M. Sch." Häse nennen mich meine Mitschülerinnen immer noch. Häse = milder Klang meines Familiennamens Hess. Ungewöhnlich auch ihre virtuose Zeichnung von Walt Disneys Dagobert Duck. Sie hätte ebenso gut den schweizerischen Globi in mein Album zeichnen können, denn ihr Vater, damals Werbechef im Warenhaus Globus, inszenierte 1932 diese bis heute beliebte Kinderbuchfigur.
 
Und hier kann ich wieder zu meiner Enkelin Nora zurückkehren. Ins Freundschaftsbuch der Freundin schrieb sie in die Rubrik „Lieblingsbuch" Globi. Kommen die Enkelinnen zu uns zu Besuch, grüssen sie, ziehen die Schuhe aus und marschieren ohne Umwege zum Schrank, wo alle Globi-Bücher versorgt sind. Globi beflügelt immer noch beide Enkelinnen und auch den Grossvater.
 
An Irmas Sprichwort, das ihr bis heute wichtig ist, erinnere ich mich manchmal, wenn ich die Kopfkissen schüttle:
 
Kein besseres Kissen in Freude und Schmerz als gutes Gewissen und ehrliches Herz.
 
Primo erinnert sich an die Lehrerin in der 4. Primarklasse, als diese dazu aufrief, Kalendersprüche in die Schule zu bringen. Die meisten Eltern waren ratlos. Es waren harte Jahre, gleich nach dem 2. Weltkrieg und die Bedürfnisse eher nur materieller Art. Die meisten Familien aus dem Arbeiterquartier in Zürich, im Kreis 5, besassen weder Bücher noch gedruckte Kalendersprüche.
 
Und jetzt verrate ich noch, was Nora in die Rubrik „Lieblingsberuf" schrieb:
Ich wünsche mir, mich zu sein.
 
Ihre Antwort zur Frage „Was ich mag"
Lachen, Frieden, Spielen.
 
"Was ich nicht so mag"
Krank sein, streiten
 
"Was ich mir von der Zukunft wünsche":
Liebsein mit andern.
 
Zum Erstaunen, auch ihrer Mama, hat sich herausgestellt, dass die Antworten der bald 8-Jährigen nicht nachgeahmt sind. Kinder von heute dürfen sagen, was sie wissen und denken. Ich bin immer wieder begeistert von ihren Antworten, auch wenn sie nicht von meinen Enkelinnen stammen.
 
 
Hinweis auf ein weiteres Blog mit Kinder-Erinnerungen von Rita Lorenzetti
 
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